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„O Gott, der Jupp hat Milli umgebracht!“

Freitag, 16. August 1929, am Mechernicher Bleiberg: Lohngeldraub und Doppelmord bleiben auch 95 Jahre nach der Tat unaufgeklärt – Zahlreiche Spuren, mehrere Verdächtige, keine Ermittlungsergebnisse – 1996 rollt eine Auswanderin im australischen Queensland den Fall neu auf und beschuldigt ihren Vater schwer

Die Werksfeuerwehr von Spandau stellte die Ehrenwache an den aufgebahrten Särgen von Jakob Bolz (41) und Hilfsförster Theodor Thelen (43), die am Freitag, 16. August 1929, beim bis heute unaufgeklärten Lohngeldraub am Mechernicher Bleiberg ihr Leben verloren. Foto: Polizei/Archiv Peter Lorenz Koenen/pp/Agentur ProfiPress

Unter großer Beteiligung der Bevölkerung zieht der Trauerzug für die beim Raubüberfall ermordeten Sicherheitskräfte durch die Mechernicher Bahnstraße. Das Entsetzen über die Bluttat hielt sich „auf Spandau“ über Jahrzehnte. Es gab viele Verdächtigungen, aber keiner der vier Täter wurde jemals ermittelt. Foto: Archiv Peter Lorenz Koenen/pp/Agentur ProfiPress

Der Lückerather Bergmann Josef Wilden, hier als Weltkriegskämpfer, der den Geldkoffer für Zahlmeister August Fritz am Freitag, 16. August 1929 getragen hatte, musste in den nachfolgenden Jahrzehnten wohl an die hundert Mal die Geschichte vom Überfall erzählen. Repro: Manfred Lang/pp/Agentur ProfiPress

Groß berichtete der „Mechernicher Anzeiger“ am Samstag, 17. August 1929, über den Überfall beim Tagebau „Virginia“, der späteren Kreismülldeponie. Repro: Archiv Peter Lorenz Koenen/pp/Agentur ProfiPress

Das Familienbild soll um die Zeit der Beerdigung der Holländerin Emilie T. entstanden sein, die Josef Johann C. (m. mit „Bobby“) 1928 geheiratet hatte – und für deren Tod er nach Überzeugung der gemeinsamen Tochter die Verantwortung trägt. Repro: FA Heinen/Ksta/pp/Agentur ProfiPress

Die damals zehnjährige Elisabeth C. am Grab ihrer Mutter. 1996 führte sie Klage, dass ihr Vater einer der Mechernicher Lohngeldräuber gewesen sei – und auch den Tod der eigenen Frau verursacht hätte. Repro: FA Heinen/Ksta/pp/Agentur ProfiPress

Josef X. (Name geändert) galt bis zum Schluss der Ermittlungen als der Mann, der zumindest die Identität der Räuber und Mörder kannte. Er selbst war für die Ermittler auch der geistige Urheber und möglicherweise Ideengeber des Mechernicher Lohngeldraubes. Selbst dabei war Josef X. jedenfalls nicht, er hielt sich zu der Zeit nachweislich an einem anderen Ort auf. Repro: FA Heinen/Ksta/pp/Agentur ProfiPress

Josef X. (Name geändert) galt bis zum Schluss der Ermittlungen als der Mann, der zumindest die Identität der Räuber und Mörder kannte. Er selbst war für die Ermittler auch der geistige Urheber und möglicherweise Ideengeber des Mechernicher Lohngeldraubes. Selbst dabei war Josef X. jedenfalls nicht, er hielt sich zu der Zeit nachweislich an einem anderen Ort auf. Repro: FA Heinen/Ksta/pp/Agentur ProfiPress

Für die Überführung der Täter wurden unmittelbar nach dem Lohngeldraub 2000 Mark Belohnung ausgesetzt, später bis zu 10.000 Reichsmark. Repro: Ronald Larmann/pp/Agentur ProfiPress

Mechernich – Am Freitag, 16. August, jährt sich zum 95. Mal eines der spektakulärsten Verbrechen in der Regionalgeschichte, der Lohngeldraub auf Spandau. Vier unbekannte Täter erbeuteten damals 7000 Mark in 240 Lohntüten, die für die Arbeiter am Kallmuther Berg bestimmt waren. Bei dem brutalen Überfall wurden die Bewacher des Lohngeldtransports, Werkspolizist Jakob Bolz (41) und Hilfsförster Theodor Thelen (43), getötet.

Trotz einer damals beispiellosen Fahndungsaktion im ganzen Rheinland, die auch auf das benachbarte Ausland ausgedehnt wurde, blieb die Bluttat zunächst unaufgeklärt. Im Juli 1996 schließlich meldete sich eine 67jährige Frau aus Australien bei dem Tageszeitungsredakteur und Regionalhistoriker Franz-Albert Heinen und behauptete: „Mein Vater ist einer der Mörder!“

Polizei und Staatsanwaltschaft interessierten sich für den Fall, mussten aber feststellen, dass es zu der bereits 1959 wegen Verjährung geschlossenen Ermittlungsakte auch 1996 keine wirklich neuen Erkenntnisse und Beweise gab. Deshalb wird die Bluttat vom Kallmuther Berg ungesühnt bleiben. Alle Beteiligten sind zudem längst verstorben.

Der Lückerather Bergmann Josef Wilden, der den Geldkoffer für Zahlmeister August Fritz am Freitag, 16. August 1929 getragen hatte, musste in den nachfolgenden Jahrzehnten wohl an die hundert Mal die Geschichte vom Überfall erzählen. Wildens Schilderung liegt auch Berichten im „Kölner Stadt-Anzeiger" vom November 1957 und Juli 1996 zugrunde.

Darin heißt es: „Anders, als sonst üblich, mussten die Geldtransporteure an diesem Tag ein weites Stück durch einen Hohlweg im Bereich der Grube Virginia zum Tagebau am Kallmuther Berg zu Fuß gehen. Wegen Umbauarbeiten fuhr die Werkseisenbahn ausnahmsweise nicht. Das müssen die Räuber gewusst haben.“

 

Lückerather war dabei

 

Je zwei der Täter hatten sich rechts und links des Weges in der Böschung verborgen. Sie ließen den Geldtransport zunächst passieren, dann sprangen sie auf den Weg und riefen „Hände hoch!“ „Förster Thelen dreht sich herum und zielt sofort mit seiner doppelläufigen Schrotflinte vom Typ »Sauer & Sohn«, Kaliber 16, Selbstspanner, auf einen der maskierten und bewaffneten Räuber“, so Josef Wildens Schilderung weiter: „Bevor der Förster abdrücken kann, setzt ein Kugelhagel aus den Waffen der Banditen ein. Thelen wird aus etwa drei Metern Entfernung von einer Schrotladung voll im Kopfbereich getroffen.“

Und weiter: „Der lebensgefährlich Verletzte lässt das Gewehr fallen. Er taumelt zurück und kann sich noch etwa hundert Meter weit schleppen, bevor er zusammenbricht.“ Der nach den Bestimmungen der Alliierten unbewaffnete Werkspolizist Bolz rannte davon, so schnell er konnte, und verunglückte dabei tödlich. Er stürzte einen 40 Meter tiefen, fast senkrechten Abhang hinunter.

Wilden und Fritz hatten keine Chance gegen die Räuber. Sie wurden laut Kriminalakte „retiriert", das heißt: in Schach gehalten. Die Banditen entrissen Wilden die Geldtasche, nahmen das Gewehr des Försters und verschwanden blitzschnell in Richtung Kallmuth.

Die jahrelangen Untersuchungen von Polizei und Staatsanwaltschaft ergaben zwar gewisse Verdachtsmomente, doch nie wurde auch nur einer der vier Täter ermittelt. Dann rollte der Redakteur Franz-Albert Heinen den Lohngeldraub in einer Artikelserie im „Kölner Stadt-Anzeiger“ im Juli 1996 völlig neu auf. Eine nach Australien ausgewanderte Frau hatte ihren Vater, den 1900 in Mechernich geborenen Johann-Josef C. beschuldigt.

Die von ihm misshandelte Ehefrau habe dem Mann bei Streitigkeiten mehrfach dessen Beteiligung am Lohngeldraub vorgeworfen. Und der Vater habe die Mutter mehrfach mit dem Satz bedroht, sie solle „aufpassen, sonst gehe es ihr wie dem Förster“. Die Mutter habe auch oft gesagt, der Vater gehöre „wegen dem Mord am Förster ins KZ“

Der Beschuldigte war bereits 15 Jahre tot, als die Tochter die schweren Vorwürfe erhob. Und die Staatsanwaltschaft hatte ihre Akten bereits 1959 geschlossen. Nach damaligem Recht war der 1929 verübte Raubmord 30 Jahre später verjährt. Die Kripo Euskirchen bekundete zwar „Interesse“, als der „Kölner Stadt-Anzeiger" die Sache 1996 neu aufrollte. Zu neuen Ergebnissen haben die Ermittlungen aber nicht geführt.

Die Mordkommission verhaftete 1929 und in den Folgejahren zahlreiche Verdächtige, es gab Hausdurchsuchungen „en masse”, aber die wahren Täter wurden nie dingfest gemacht.

Wie damals allgemein üblich, wurden die Arbeiter der „Gewerkschaft Mechernicher Werke" wöchentlich entlohnt. Das Geld war in Lohntüten verpackt, die vom Lohnbuchhalter und einer Sicherheits-Eskorte an den verschiedenen Werksbereichen ausgegeben wurden. So auch am Freitag, dem 16. August 1929.

 

Heute 200.000 Euro

 

Der Arbeiter Josef Wilden aus Lückerath trug den schwarzen Koffer, in dessen Blech-Einsatz sich noch 240 Lohntüten mit insgesamt 7200 Mark Inhalt befanden. Das waren nach heutigem Wert etwa zwischen 150 000 und 200 000 Euro. Vorher war der Lohn bereits an anderen Stellen ausgezahlt worden. Die Tasche war jedoch immer noch schwer, weil die Tüten viel Hartgeld enthielten. Josef Wilden wurde vom Lohnbuchhalter August Fritz, der damals 43 Jahre alt war, begleitet.

Zur Sicherheit gingen noch zwei Männer beim Geldtransport mit: der Mechernicher Hilfsförster Theodor Thelen (43) aus dem Baltesbenden und der Sicherheitsbeamte und ehemalige Kriminalpolizist Jakob Bolz (41) aus Mechernich. Damals galten noch die Besatzungsbestimmungen infolge des Versailler Vertrages. Deshalb durfte nur Förster Thelen eine Waffe tragen.

Die Nachricht vom Überfall verbreitete sich wenig später in Mechernich und im gesamten Kreis Schleiden wie ein Lauffeuer. Förster Thelen und der abgestürzte Sicherheitsbeamte wurden geborgen und ins Mecher-nicher Krankenhaus gebracht, wo sie wenig später starben. Die von Medizinalrat Dr. Hurck, Schleiden, und Dr. David durchgeführte Leichenöffnung am nächsten Tag ergab folgende Todesursache:

Thelen war von 47 Schrotpartikeln an Kopf und Hals getroffen worden. Dabei war die linke Halsschlagader zerrissen worden, wodurch der Vater von drei Kindern verblutete. Jakob Bolz habe sich beim Absturz die linke Niere so verletzt, dass er innerlich verblutete. Der Familienvater hinterließ fünf Kinder.

Aus Aachen reiste Staatsanwalt Dr. Schwabe an, in seinem Gefolge die Mordkommission unter Kriminalkommissar Kutzbach. Die Landjäger und Polizisten des gesamten Kreises Schleiden wurden in die Verfolgung der Täter einbezogen. Zur Verstärkung kamen aus Köln zehn schwerbewaffnete Kriminalisten.

Alle Grenzübergänge bekamen ebenso telegrafisch den Fahndungsaufruf wie die grenznahen Polizeibehörden in Belgien und Holland. Im wallonischen Verviers verhaftete die Polizei schon kurz nach der Tat vier Männer, auf die die Täterbeschreibung hätte passen können. Doch dieses Quartett war offenbar unschuldig.

 

Gesichtsmasken getragen

 

Am Tatort wurden penibel Spuren gesichert und Zeugen befragt. Wenig später wurde eine der Gesichtsmasken gefunden, die die Täter trugen: Es handelte sich um das Oberteil eines Damenstrumpfes mit eingeschnittenen Augen- und Mundöffnungen. Der Strumpf trug die aufgenähten Initialen „A.J.“, was zu mancherlei Spekulationen Anlass gab. Wessen Frau mit diesen Namens-lnitialen könnte wohl solche Strümpfe tragen? Im Wald Richtung Kallmuth fand die Polizei auch das Gewehr des Försters sowie die leere Geldtasche.

Anhand von Zeugenaussagen wurde später klar. dass die vier Täter mit Fahrrädern aus Richtung Satzvey zum Tatort gekommen waren. Mit den Rädern flohen sie über Kallmuth, Urfey, Keldenich, Kall und Sistig, wo sie eindeutig von Passanten erkannt wurden. Zur belgischen Grenze hin verlor sich schließlich ihre Spur. Weitere Ermittlungen ergaben, dass die Räuber mit Revolvern und einem alten Vorderlader-Gewehr bewaffnet waren. Außerdem verfügten sie offenbar über beste Ortskenntnisse am Bleiberg. Auch die Gepflogenheiten und Betriebsabläufe im Bergwerk müssen ihnen bekannt gewesen sein.

Die Staatsanwaltschaft verbreitete bereits am nächsten Tag einen Aufruf an die Bevölkerung mit der Bitte um Hinweise. Gleichzeitig wurden 2000 Mark Belohnung für die Ergreifung der Räuber ausgelobt. Das war für damalige Verhältnisse ein kleines Vermögen. Später wurde die Belohnung sogar noch mehrfach aufgestockt Die Fahnder waren zuversichtlich, die Täter schnell fassen zu können. Doch dann kam alles ganz anders.

Die beiden Opfer des brutalen Lohngeldraubes an der Grube Virginia waren noch nicht unter der Erde, da glaubte die Aachener Mordkommission an einen ersten Fahndungserfolg. Es verdichteten sich Hinweise darauf, dass der damals 34jährige Nichtseßhafte Josef X. (Name geändert) aus der Gemeinde Hellenthal im Zusammenhang mit der Tat stehen könnte. Verschiedene Zeugenaussagen belasteten den Mann: Er hatte zuvor einige Zeit in Belgien gelebt und war eine Woche vor dem Raub in Mechernich gewesen: um die Gelegenheit zum Überfall auszubaldowern, wie die Kripo glaubte.

Zudem verstrickte sich der vorbestrafte Mann bei späteren Vernehmungen in starke Widersprüche. Der Verdacht, X. habe zumindest Kontakt zu den Räubern gehabt und kenne ihre Namen, wurde bis zur endgültigen Einstellung der Ermittlungen im Jahre 1959 nie ausgeräumt. X. konnte allerdings einwandfrei belegen, dass er sich zur Tatzeit an einem anderen Ort aufgehalten hatte.

 

Landjäger und Bürgermeister ermitteln

 

Zwar war X. unter Verdacht, aber er war noch nicht gefasst. Wenige Tage nach der Bluttat gab es Hinweise darauf, dass der Obdachlose sich in einem Waldgebiet bei Schmidtheim aufhalten sollte. Sofort machten sich ein Landjäger namens Rademacher und der damalige Schmidtheimer Bürgermeister Krumpen mit dem Wagen des Arztes auf die Suche. Tatsächlich gelang es ihnen, den Verdächtigen am Waldrand in Richtung „Ländchen" zu stellen. Bei ihm wurden Gegenstände gefunden, die er irgendwo gestohlen hatte.

Im Zuge seiner Vernehmung bestritt X., der zuvor mehrere Jahre in Siegburg im Zuchthaus gesessen hatte, jede Tatbeteiligung. Allerdings gab er bei späteren Verhören an, die mutmaßlichen Täter zu kennen. Er nannte verschiedene Namen, darunter als angebliche Beteiligte vier Männer aus dem Raum Euskirchen/Stotzheim. Später gab er wieder andere Einlassungen ab, bei denen neue Leute beschuldigt wurden.

Klar wurde jedoch, dass die Pläne zum ÜberfalI des Lohngeldtransportes nicht neu waren: Erstmals Anfang der 20er Jahre waren in der Mechernicher Halb- und Unterwelt Pläne diskutiert worden, wie man sich mit einem großen Coup ein für allemal finanziell sanieren könnte. Immer wieder kam das Gespräch auf die Geldtransporte im Bergwerksgelände.

Mitte der 20er Jahre saß X. mehrere Jahre in Haft. Hinter Gittern in Siegburg wurden die Pläne mit mehreren Zellengenossen präzisiert. Letzte Vorbesprechungen gab es laut späteren Kripo-Akten im damaligen Neubau der evangelischen Gemeinde in Roggendorf. Josef X. schilderte der Mordkommission beispielsweise am 23. September 1929 in Aachen: „Mit R. hatte ich persönlich verabredet, die Lohngelder bei Gelegenheit abzufangen und zu rauben.”

Dann gab er den Ermittlern zu Protokoll, kurz vor der Tat habe er heimlich ein Gespräch zwischen KI. und R. (beide aus dem Raum Euskirchen) belauscht, bei dem es offenkundig um den geplanten Überfall ging. Kl. habe zu R. gesagt: „Na, das nächste Mal gelingt es, verlass Dich drauf, Jupp!” Schon damals habe er sich gedacht, so X. vor der Mordkommission, dass es sich nur um den geplanten Überfall am Bleiberg handeln könne.

Für die Staatsanwaltschaft Aachen stand bis zum Schluss fest, dass X. in Wahrheit der geistige Urheber des Raubmordes war. In der Ermittlungsakte, die jetzt im Hauptstaatsarchiv in Schloss Rankum bei Düsseldorf liegt, kann man die Einschätzung der Fahnder nachlesen: ,,Fest steht, dass X. am 4. August 1929 mit dem Vorsatz aus Belgien gekommen ist, den Lohngeldraub in Mechernich auszuführen.”

Noch am 23. Februar 1937, siebeneinhalb Jahre nach der Tat, notierte der Staatsanwalt: „Es besteht noch heute der dringende Verdacht, dass X. die Namen der Täter kennt und mit der Wahrheit zurückhält.” Wenn Josef X. tatsächlich die wirklichen Raubmörder kannte, nahm er das Geheimnis bei seinem Tod am 13. Februar 1976 in Köln mit ins Grab.

 

„Die schwarze Hand“ geht um

 

„Am Rande der Ermittlungen wurde auch deutlich, dass es damals rund um den Bleiberg eine kriminelle Vereinigung gab, die unter dem Namen »Die schwarze Hand« für mancherlei Straftaten in Frage kam”, schreibt Franz-Albert Heinen. Unter anderem habe es ein Jahr vor dem Mord einen Riesenskandal gegeben, als aufflog, dass in den alten Bergwerksstollen eine munter laufende Falschmünzerei betrieben wurde. Der Fall sorgte weit über die Kreisgrenzen hinaus für Schlagzeilen. Neben X. wurden zahlreiche weitere Personen verhaftet, aber alle wurden nach kurzer Ermittlung wieder freigelassen, weil sie ein Alibi hatten oder aus anderen Gründen als Täter nicht in Frage kamen.

Eine Flut von teilweise anonymen Hinweisen beschäftigte über die Jahre eine ganze Heerschar von Polizeibeamten. Viele wollten offenkundig anonym nur völlig unschuldige Leute denunzieren, nach dem Mono: „Zuzutrauen wär's ihm.” Andere hofften, sich mit Märchengeschichten einen Anteil an der Belohnung zu ergaunern, die mit der Zeit auf 10 000 Reichsmark anwuchs.

Die Kripo versuchte zwischenzeitlich mit mancherlei Tricks, die wahren Täter zu finden. So wurde einmal ein Zuchthäusler gezielt als Spitzel in die Zelle eines Mannes verlegt, der verdächtigt wurde, am Virginia-Überfall beteiligt gewesen zu sein. Zu diesem Zweck wurde der Mann eigens in ein anderes Zuchthaus verlegt.

Später sagte ein Strafgefangener aus, sein Zellennachbar habe Alpträume gehabt. Auf näheres Befragen habe er gestanden, dass ihn der Mord von Mechernich bedrücke. Im Ergebnis brachten alle Ermittlungen nichts. Früher verjährte Mord nach 30 Jahren. Deshalb schloss die Staatsanwaltschaft 1959 die Akte.

Dann traf 1996 zunächst ein Brief aus Australien in der Lokalredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“ in Euskirchen ein: Eine Frau beschuldigte ihren verstorbenen Vater nicht nur wegen furchtbaren Misshandlungen ihrer Mutter, sondern auch der Beteiligung am Mechernicher Lohngeldraub 1929. Dann erklärte die Frau im Telefoninterview, ihr Vater Josef Johann C. sei zur Tatzeit wochenlang mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Außerdem habe er Waffen besessen.

Noch Jahre später sei zu Hause oft über den Mechernicher Raub geredet worden. Die Mutter habe ihrem Vater die Tat vorgehalten und sogar damit gedroht, ihren Mann wegen der Bluttat in Mechernich anzuzeigen. Der im Jahr 1900 in Mechernich geborene Vater habe im Gegenzug der Mutter prophezeit, es könne „ihr genauso gehen wie dem Förster“.

 

Gewalttätig und straffällig

 

C. sei als junger Mann ausgesprochen gewalttätig und häufig in Schlägereien und strafbare Handlungen verwickelt gewesen. 1928 heiratete Josef Johann C. die damals 24jährige Holländerin Emilie T. Noch im selben Jahr zog die junge Familie von Mechernich ins Bergische Land - angeblich auf Anraten des Großvaters, eines angesehenen Mannes. Der habe seinem Sohn geraten, sich aus Mechernich zu verdrücken.

Im Bergischen Land arbeitete C. in einem Kalksteinbruch. Am 1. Februar 1929 wurde die einzige Tochter geboren. Trotz des Umzuges ins Bergische sei ihr Vater noch häufig nach Mechernich gefahren. Zwei Wochen vor dem Überfall habe der Vater die Familie verlassen, einige Wochen nach der Bluttat sei er zurückgekehrt. C. sei damals „mit dem Fahrrad unterwegs gewesen", erzählten später die Tanten der heranwachsenden Tochter.

Die Mutter habe oft gesagt, der Vater gehöre „wegen des Mordes am Förster ins KZ. In seiner Wut habe der Vater die Mutter nach solchen Beschuldigungen regelmäßig schwer misshandelt. Ihr Vater sei ein heftiger Trunkenbold gewesen. Als sie zwei Jahre alt war, habe er im Suff versucht, die eigene Tochter in der Regentonne zu ersäufen.

Am Neujahrtag 1939 starb der Großvater, der Einzige, der ihren Vater zügeln konnte. Danach sei er völlig außer Kontrolle geraten. „Das war die reine Hölle“, erinnerte sich die Australierin 1996 im Telefoninterview mit Franz-Albert Heinen an die folgenden Monate.

Die Mutter sei inzwischen zum zweiten Mal schwanger geworden, der Vater wollte das Kind aber nicht. Im April 1939 habe der Vater die Mutter so misshandelt, dass dadurch das Ungeborene abgetrieben wurde. Die damals neunjährige Tochter erinnerte sich noch 1996 an den Anblick, als ihre blutüberströmte Mutter die Treppe herunter geschwankt sei. Zwei Tage lang habe der Vater verhindert, dass die Mutter zum Arzt gebracht wurde. Als sie schließlich doch noch ins Krankenhaus kam, sei ihr nicht mehr zu helfen gewesen.

Der Vater heiratete wenig später eine andere Frau, von der er eine Tochter (1940) und einen Sohn (1943) bekam. Während der Vater im Krieg war, erzog die Stiefmutter Elisabeth und die anderen Kinder. Nach Kriegsende kehrte mit dem Vater der Horror wieder ein. Wieder mal betrunken, habe er 1945 die inzwischen 16jährige in den Wald gelockt und dort versucht, sie mit einem Messer umzubringen. Sie floh, wurde von der Polizei aufgegriffen und für zwei Jahre in ein Erziehungsheim gesteckt: „Das waren die schönsten Jahre meiner Kindheit.“

Der Redakteur Franz-Albert Heinen schreib 1996 in der letzten Folge einer kleinen Artikelserie über den Mechernicher Lohngeldraub 1929: „Der Raubmord vom Bleiberg ist definitiv verjährt. Zu dieser Erkenntnis kam inzwischen die Staatsanwaltschaft nach intensivem Studium der Gesetzestexte. Die Verjährung verbietet es der Krimmalpolizei, wieder offizielle Ermittlungen aufzunehmen, bei dem ein Förster und ein Werkspolizist getötet wurden.“

Dennoch interessierten sich das für Schwerstkriminalität zuständige Zentrale Kriminalkommissariat in Euskirchen für den Fall. Die Kripo-Beamten erwogen, die Akten aus dem Staatsarchiv zu holen und auf neue Erkenntnisse hin auszuwerten. Darüber hinaus bat die Kripo Personen, die zu diesem Fall noch konkrete Angaben machen können, sich zu melden. Ihre Aussagen würden rein informell entgegengenommen, ohne dass dadurch offizielle Ermittlungen in Gang gesetzt würden.

 

„Besser den Mund gehalten“

 

In Mechernich gingen die Meinungen über die späte Offenbarung der Australierin auseinander. Die einen meinten, dass sie „besser den Mund gehalten hätte“, andere begrüßten es, dass möglicherweise nach Jahrzehnten neue Aspekte des ungeklärten Kapitalverbrechens aufgedeckt werden könnten.

Die Kronzeugin selbst, die den Mechernicher Überfall aus dem australischen Queensland heraus erneut zur Sprache brachte, rechtfertigte sich in einem zweiten Brief an den „Kölner Stadt-Anzeiger“, der auch Fotos enthielt, die unter anderem ihren Vater zeigen. Sie schrieb: „Es verfolgt mich, es lässt mir keine Ruhe. Jemand muss doch einen Verdacht gehabt haben. Die Worte meiner Mutter, den Terror, den ich mitgemacht habe jedes Mal, wenn der Förster erwähnt wurde. Jedes Mal, wenn mein Vater uns »versprach«, dass auch wir eine Kugel durch den Kopf bekämen.“

Auch die Tanten mütterlicherseits hätten Angst vor ihrem Vater gehabt und sich nicht getraut, ihm zu nahe zu kommen. Lange Zeit habe niemand bei ihren Deutschlandbesuchen über den Bleibergmord mit ihr sprechen wollen. Erst nachdem der Vater 1981 gestorben war, verriet man ihr bruchstückhaft einige Details.

„Wie viele Geheimnisse sind mit ins Grab genommen worden?“, fragte sich die 1996 67jährige: „War mein Vater der Kleine unter den vier Räubern?“ Tatsächlich wurde einer der Täter von Zeugen als relativ klein beschrieben. Seine Tochter: „Oder hat er nur geholfen? Er war in Mechernich um diese Zeit - oder in der Gegend.“ Als ihre Mutter starb seien die ersten Worte ihrer Tante gewesen: „Oh Gott, der Jupp hat die Milli umgebracht!“

pp/Agentur ProfiPress

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